In einem unscheinbaren Industriegebäude hinter dem Bahnhof in Schwerzenbach öffnet der Künstler Florian Germann die Fenster seines Ateliers im Parterre. Heute werde die erste von fünf Skulpturen für die Ausstellung «Die Stral» geliefert, erklärt er. Das Problem: Die beiden Teile wiegen 180 Kilogramm. «Sie passen nicht durch die Türe, ich muss sie durchs Fenster hier hinten in mein Atelier heben.» Wer hilft ihm beim Tragen? Florian Germann seufzt und lacht: «Zusammen mit ein paar Leuten schaffen wir das. Mehr Sorge bereiten mir mögliche Kratzer. Das Material – chemisches Glas – ist sehr heikel.» Bis die Lieferung kommt, bleibt Zeit für ein Gespräch an einem kleinen Tisch zwischen blassen Nylonskulpturen.
Die Installation, die du in der Ausstellung «Die Stral» zeigst, erzählt vom Blitzeinschlag 1572 ins Zürcher Grossmünster. Warum ist der Blitz dein zentrales Thema? Es gäbe ja auch viele andere interessante Schwerpunkte für eine Ausstellung zur Reformation.
Ja, auf jeden Fall. Dass ich mich auf den Blitz konzentriere, hat viele Gründe. Ich arbeite grundsätzlich mit Energie, suche immer nach dem grösstmöglichen Energiepotenzial – in den Materialien oder in einem Ereignis. Das ist seit zehn Jahren, seit ich Kunst mache, mein Thema. Bei dieser Ausstellung interessiert mich der Blitzeinschlag im Grossmünster auch als Ereignis: seine Auswirkungen auf die Architektur und das Zusammenleben der Menschen. Die Energie, die der Blitz selbst auslöst. Reformation bedeutet für mich Revolution: ein hochenergetisches Ereignis, das alles verändert. Wie auch ein Blitzeinschlag.
Wie muss man sich die Ausstellung vorstellen?
Ich zeige fünf Manifestationen dieses Ereignisses: Einzelne Skulpturen, die zusammen eine begehbare Rauminstallation ergeben. Schreitet man durch diese Manifestationen, entstehen verschiedene Kapitel, die vom Ereignis erzählen. Allerdings bleiben diese vage, denn es soll ein universaler Zusammenhang erlebbar sein.
Wovon erzählen die Skulpturen?
Dem Gewitterblitz am nächsten kommt eine Silberskulptur, die für die Blitze ableitende Spitze des Kirchendaches steht. Auf sie folgen eine glockenähnliche Aluminiumskulptur und ein Stuhl mit zwei Schuhen für einen imaginären Wächter. Früher beobachteten Turmwächter das Wetter und läuteten – je nach Witterung – die Glocken. Das nannte man Wetterläuten. Die Form meiner Glockenskulptur entspricht gleichzeitig einer Gauss'schen Kurve, denn sie ist durch eine Wahrscheinlichkeitsrechnung entstanden: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Blitz innerhalb von tausend Jahren wieder ins Grossmünster einschlägt? Zur Gauss'schen Glocke gehört eine Batterie; hinter ihr stossen die Besucher*innen auf einen Lautsprecher-Chor und einen Sessel. Ein in der Schweiz lebender, chilenischer Musiker liefert den elektronischen Sound dafür. Die folgende Manifestation ist das Gebäude – das ist die Skulptur die heute geliefert wird, sie ist aus Nylon. Es steht für eine Energiezelle, in der sich das Volk versammelt und dabei Wärme abgibt.
Du wählst die Materialien für deine Arbeiten nie zufällig aus. Wofür stehen Silber, Aluminium und Nylon in «Die Stral»?
Die Materialien, die ich für diese Installation verwende, sind leitfähig oder niedrig leitfähig. Das ist ein physikalischer Gedanke, der zum Blitzeinschlag passt: Wie kann man Energie blockieren, wie leiten? Das ist in Verbindung mit dem Blitz sehr wichtig. Silber habe ich zum Beispiel nicht nur ausgewählt, weil ein Blitz silbrig wirkt, sondern auch aus formalen Kriterien: Silber ist das zweitleitfähigste Material. Einen Ein-Kilo-Silberbarren habe ich auf eine Dicke von wenigen Millimetern ausgewalzt. So ist eine sechs Meter lange Schlange entstanden, die aussieht wie ein Blitz. Wenn man sie anfasst, spürt man womöglich ein Kribbeln, denn sie kann mittels einer Autobatterie geringfügig unter Strom gesetzt werden.
Was fasziniert dich am Phänomen Blitz?
Ein Blitz ist 3,2 Millionen Volt stark. Für eine solche Energieladung kann nicht einmal ein Atomkraftwerk sorgen. Das ist die grösste Energieladung überhaupt auf der Welt. Ein Gewitter entsteht vom Erdgrund aus; erst danach in der Luft. Ein Gewitter spüren wir zwar von oben, aber es kommt genauso von unten. Das gibt eine Verbindung zwischen Erde und Himmel – wie ein religiöses Symbol. Es ist interessant, dass Blitze früher stets als Strafe interpretiert wurden. Für konfessionelle Propaganda wurde er sowohl von der Reformation wie vonseiten Katholizismus rege benutzt. Der Blitz ist ein wichtiges Bild: der Fingerzeig Gottes. Für mich ist ein Blitz Kraft.
Dein persönliches Verhältnis zu Religion?
(denkt nach) Eher schwierig – wie vermutlich bei vielen aufgeklärten Leuten.
Inwiefern?
Religion gegenüber bin ich skeptisch. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Religion zu praktizieren. Ich empfinde Religion als unheimlich, weil religiöse Vorstellungen eine Art Selbstbetrug sind. Was nicht bedeutet, dass ich mich damit nicht beschäftige. Ich lese viel über Religion, auch über Sektierertum.
Wie nah war dir die Reformation, bevor du mit dieser Arbeit angefangen hast?
Als gelernter Steinbildhauer war ich viel in Kirchen unterwegs, im Allerheiligen Schaffhausen oder Sankt Georg in Stein am Rhein. Wappen sind wie steinerne Bücher, in ihnen kann man lesen und viel erfahren, auch über die Reformation. Mein Zugang zur Religion ist eher jener über den Schmuck, die Architektur, die Ornamentik und die Skulptur.
Wie hast du zum Blitzeinschlag von 1572 recherchiert?
Ich habe mich anekdotisch ins Thema eingelesen und mit vielen gesprochen, die sich auskennen. Ein emeritierter Professor erzählte mir zum Beispiel viel darüber, wie man damals das Feuer im Dach löschte. Denn nach dem Blitzeinschlag löschte man nicht nur mit Wasser, sondern musste auch Mist und Kloake verwenden, um brennende Dächer zu löschen. Daraus schliesse ich, dass sicher eine Woche lang ein brauner Turm in der Stadt stand, ein mit Scheisse verschmierter Turm. Es reizt mich solche Anekdoten in die Installation zu integrieren. So entstand zum Beispiel das Energie-Fass, ein Fass gefüllt mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit, das aber wie eine Batterie funktioniert. Ich hätte auch ein Scheisse-Fass machen können. Das ist aber nicht mein Ding.
Inwiefern erfahren die BetrachterInnen aus diesen Erzählungen auch historisch geprüfte Fakten?
(lacht) Das ist eine heikle Angelegenheit, denn das wird immer ein gefährliches Gemisch. Ich hatte auch schon medizinische Aspekte in meinen Arbeiten. Kommt dann ein Arzt an eine Führung, kann es gut sein, dass er sich wahnsinnig aufregt, weil ich allerhand Theorien zuspitze. Aber für die Kunst ist es interessant, wissenschaftliche Aspekte beizuziehen. Ich recherchiere zwar immer sorgfältig, aber dennoch entstehen natürlich Verbindungen, die nicht exakt wissenschaftlich sind. Ich habe keine Hemmungen, auch einmal etwas zurechtzubiegen, damit es der Narration dient.
Sollen deine Arbeiten trotzdem einen Erkenntnisgewinn transportieren?
(seufzt) Da muss ich weit hinten anstehen. Ich bringe keine neuen Erkenntnisse ans Tageslicht, ich habe nichts Neues herausgefunden. Meine Arbeiten sind poetischer Natur, sie werden durch Kombinationen interessant.