Mit Adolf Muschg sprach
die Journalistin und Buchautorin Gina Bucher
In welchem Verhältnis stehen für Sie glauben und zweifeln?
Zweifeln ist fundamental! Glauben ist einatmen, zweifeln ist ausatmen, das gehört zusammen. Die guten Fragen erkennt man daran, dass sie zu grösseren Fragen führen. Wenn ich mir vorzustellen versuche, wer das Leben angeschoben hat und wie: Da fing irgendwann ein Schwefelbelag an, autonom zu werden. Das ist ein Wahnsinn. Nicht, dass ich darin ein Fingerzeig des Schöpfers sähe. Das stellen sich vielleicht die Märchenerzähler so vor. Das sind schöne Bilder, die man humoristisch erzählen kann und ich finde, die soll man auch humoristisch erzählen. Denn in diesem Humor ist glauben und zweifeln eigentlich eine Sache. Weil, wir alle wissen, dass diese Geschichten so nicht wahr sind. Und doch haben sie eine Wahrheit, die uns berührt. Die uns ein Aha-Erlebnis angibt, ohne zu wissen, warum.
Ich habe den Eindruck, dass heute Widersprüche schwerer auszuhalten sind. Liegt das auch daran, dass sich durch den Wegfall der Religion, die Gemeinschaft auflöst?
Mir scheint, es ist der Grundfehler des Menschen, dass er die Widersprüche, die er selbst kreiert, nicht aushält. Und vor allem dazu kein humoristisches Verhältnis entwickelt. Wir sind das einzige Tier auf dieser Erde ohne erkennbares Programm. Jede Amsel, die singt, weiss, warum. Sie braucht das nicht zu wissen, sie tut es. Wir dagegen wissen nicht warum und machen vieles, um erst hinterher merken, wie beschissen – oder wie sinnvoll das war. Es ist interessant, dass wir trotz Blick in die Menschheitsgeschichte noch immer keine neue Perspektive entwickelt haben. Die Silicon-Valley-Propheten etwa stellen sich im Grunde die Zukunft noch immer genau gleich vor, wie sich einst Jules Verne das Jahr 2000 mit fliegenden Oldtimer vorgestellt hatte: Die Zukunft ist voll digitalisiert – und im übrigen recht primitiv. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass mir künftig ein Roboter – Sie sind jetzt noch keiner – gegenüber sitzt, der mich dauernd bei Widersprüchen ertappt und schon deshalb findet: Mit dem kann man nicht reden.
Bereitet es Ihnen Mühe, dass man das Göttliche nicht beweisen kann?
Nein, denn unsere Logik wackelt noch in viel banaleren Details als dem Göttlichen. Und dass die Intuition eine gute Ergänzung zur Logik ist und sich gewöhnlich in einem fundamentalen Widerspruch dazu befindet, muss man einfach als ein Spiel ansehen. Eine Vorstellung, die ich gerne mag – denn das ist natürlich eine poetische. Die Aborigines etwa gehen davon aus, dass wir geträumt werden. Genauso fragt Shakespeare: In wessen Schlaf sind wir der Traum? Ich mag solche Metaphern, weil sie die Phantasie anregen.
Woran zweifeln Sie im Moment?
Ich stelle fast hämisch die Gegenfrage: Woran nicht?
Sie verfassen auch Predigten: Finden Widersprüche Platz in einer Predigt?
Sie besteht daraus. Wobei ich lediglich ab und zu Predigten schreibe, nicht regelmässig. Und dass ich mich auf die Kanzel stelle, das mache ich nie mehr.
Warum?
Weil ich nicht dorthin gehöre. Wenn man sich nicht als Vermittler fühlt und auch nicht Gottes Wort im Rücken hat, das einen stärkt, dann soll man nicht auf eine Kanzel. Etwas anderes ist es, sich vor die Gemeinde zu stellen, um über ein aktuelles Thema zu reflektieren.
Woran glauben Sie heute nicht mehr, woran Sie vor zehn Jahren noch geglaubt haben?
(denkt nach) Jetzt sage ich etwas Gefährliches: Ich glaube nicht mehr so sicher daran, dass es mit dem Menschen gut ausgehen wird. Lange hatte ich alle möglichen Hilfskrücken für die Vorstellung, dass der Selbsterhaltungstrieb grösser sei als die Verwirrung, in die er sich begibt mit dem, was er als Fortschritt bezeichnet. Darüber bin ich mir heute nicht mehr sicher.
Warum nicht? Wie bringt man eine Konsumgesellschaft dazu, zu lassen?
Es ist ja völlig klar, dass wir jetzt schon lange auf Kosten einer Mehrheit der Menschen leben. Die naive Vorstellung, dass es uns insgesamt besser geht, wird kompensiert durch die Tatsache, dass es rasant in der falschen Richtung weitergeht. Deswegen bin ich sehr viel weniger zuversichtlich als auch schon. Ich kann zynisch sagen oder egoistisch: Ich brauche das wahrscheinlich nicht zu erleben, aber meine Kinder. Denn – und das ist leider nicht originell, wenn ich meine Jugend mit der jetzigen vergleiche, war ich bezüglich Perspektiven wahnsinnig privilegiert. Ich durfte als Student ohne Modul studieren, bekam Stipendien, durfte mich irren. Junge Menschen können das heute nicht mehr. Ich konnte nach meinem Studium Stellen auswählen und mir vornehmen, ich werde Professor. Ich konnte mir auch vornehmen, Sozialist zu werden und die Welt zu verändern. Kein Modell aber, das ich erlebt habe, kann ich als hoffnungsvoll für die Zukunft des Menschen sehen.
Wie denken Sie über das Reformationsjubiläum: Muss das überhaupt gefeiert werden?
Ja, sicher! Es ist unsere verdammte Pflicht, das Feld unserer Aufmerksamkeit mit interessanten Dingen zu besetzen. Die Hochzeit des englischen Königshauses in Ehren, aber im Vergleich dazu ist die Reformation ein solch unglaublich folgenreicher Anstoss gewesen. Sie war ungemein vielfältig, alleine der Max Weber'sche Kapitalismus leitete sich quasi von Calvin ab. Oder die Demokratie, wie wir sie heute kennen, die sich auch auf dem Nährboden der Reformation weiterentwickelte.