Der Historiker Delf Bucher zeigt in seiner Stadtführung «Reformation - der Urknall für die moderne Schweiz» die Nachwirkungen von Zwingli & Co in Downtown Zürich. Diese Meditation über die alte Fleischhalle an der Limmat gibt einen ersten Eindruck.
Kurz vor der Gemüsebrücke an der Limmat mit Blick auf Rathaus und Hauptwache zeige ich jeweils das Bild der alten Fleischhalle. Verwundert und teilweise irritiert schauen die Teilnehmer des Rundgangs auf das Display. Wenn das Fleischhallen-Foto auch nur bräunlich getönt daher kommt, geht ein exotischer Zauber von ihm aus. «Kalbshaxenmoschee» nannte der Volksmund das Gebäude liebevoll genannt, das in byzantinischem Stil 1866 eröffnet wurde und von der NZZ sogleich als eines der «schönsten Gebäude der Stadt» geadelt wurde. Die Nachgeborenen befällt beim Anblick der abgerissenen Fleischhalle eine leise Melancholie und viele schlüpfen in die Rolle eines Denkmalpflegers: «Heute würde man das niemals abreissen!»
1960 dagegen wehte der Zeitgeist des Automobilzeitalters. Freie Fahrt am Limmatquai und freier Blick auf die Alpen war das Motto der Stadtregierung, dabei unterstützt von Architekten. So schrieb 1960 die «Schweizerische Bauzeitung»: «Wir sind in Steinquadern eingekerkert. Die Fleischhalle bedrängt uns, sie versperrt den Blick, sie lässt uns keinen Raum, direkt am Wasser zu sitzen.» Zwei Jahre später donnerte die Abrissbirne auf die Fleischhalle.
Für meinen Rundgang «Die Reformation - der Urknall der modernen Schweiz» ist die Fleischhalle Steilvorlage für ganz verschiedene reformationsgeschichtliche Stichwörter:
1. Jede Modernisierung birgt auch ein zerstörerisches Moment.
Das Verschwinden des alten Gebäudes bedauern heute viele. So wird es auch im 16. Jahrhundert vielen Zürcherinnen und Zürcher ergangen sein, als im Zuge der Reformation Klöster, Kapellen und Heiligenstatuen aus dem Stadtraum verschwanden.
2. «Tragikomödie der Fleischfresser»
Die Freibänke der Zürcher Metzger schlagen eine assoziative Brücke zum Wurstessen. Die Zürcher Reformation ist ohne Wurstessen undenkbar. Es ist eine der welthistorisch bedeutendsten Performances, die einer durchaus künstlerischen Inszenierung folgte. Nicht umsonst bezeichnete der anwesende Zwingli das Wurstessen in einem Brief als «Tragikomödie der Fleischfresser».
Entscheidend für das Wurstessen war die Teilnehmerzahl. Zwölf sollten es sein, wie eben die zwölf Apostel, die beim letzten Abendmahl mit Jesus zusammensassen. Wichtig war auch, dass nicht ganze Würste aufgetragen wurden, sondern eine in Scheiben geschnittene. Die Scheiben sollten so dünn sein, dass sie an Hostien erinnerten. Endgültig zur provokativen Performance in der Druckerei von Froschauer wurde das Wurstessen durch das gewählte Datum: der 9. März 1522, der erste Sonntag der Fastenzeit.
Die Teilnehmer: Der Hausherr Froschauer, zwei Priester, Druckergesellen und das geht trotz seiner Bedeutung oft vergessen: radikal-prophetische Handwerker, die als Bibelleser aus der Heiligen Schrift ihre eigenen Schlüsse zogen. Später sind sie allesamt dem radikalen Täuferflügel zuzurechnen, unter ihnen der Wurstesser Klaus Hottinger, der 1524 in Luzern geköpft wurde.
Daran zeigt sich etwas Grundsätzliches: Die durch Bibellektüre gebildeten Laien aus dem Handwerkermilieu wollten ihre Lektüreerlebnisse nicht in der Schreibstube geniessen, sondern in einem Akt der Selbstermächtigung in die Tat umsetzen. Der Realpolitiker Zwingli dagegen schritt mit der Lizenz der Mächtigen von Disputation zu Disputation, jede Etappe abgestimmt mit der städtischen Elite. Deshalb bestand er hinterher darauf, dass er dem Wurstessen nur als Zuschauer beigewohnt hat.
Zwei Wochen nach dem Tabubruch der Fleischesser rechtfertigte Zwingli das Wurstessen in einer flammenden Predigt. Sein Hauptargument: Das Neue Testament gibt nirgendwo Speisevorschriften vor. Also gilt nach Zwingli folgender Grundsatz: «Willst du fasten, tue es; willst du lieber kein Fleisch essen, iss es nicht, lass aber dabei den Christenmenschen ihre Freiheit.»
Bereits drei Wochen später liegt die Predigt mit dem Titel «Von erkiesen und fryheit der spysen» vor.
3. Die Kalbshaxenmoschee
Die Fleischhalle wurde in Anspielung an ihr orientalisches Dekor als «Kalbshaxenmoschee» bezeichnet. Die Fleischhalle hatte nichts mit dem Islam zu tun, der Islam mit der Zürcher Reformation aber sehr wohl. Der Zwingli-Mitstreiter Theodor Bibliander hatte die ärgste Ketzerschrift der damaligen Zeit überhaupt herausgegeben: den Koran.
Wie viele andere sah Bibliander im Islam eine abgefallene Irrlehre vom Christentum. In gut humanistischer Art wollte er gen Orient ziehen, um ohne Schwert die Reinheit der Christenlehre den Mohammedaner zu bringen. Ob der reformierte Missionar mit seinen nur rudimentären Arabischkenntnissen friedliche Aufnahme gefunden hätte, darf bezweifelt werden. Immerhin sind in der islamischen Gelehrtenwelt die Nachrichten von der Reformation im fernen Europa registriert und von Einzelnen auch auf die Wahlverwandtschaften hingewiesen worden. Die reformatorischen Stützpfeiler wie das «sola scriptura» oder das Bilderverbot waren für die islamischen Geistlichen Indizien einer ähnlich gestrickten Gedankenwelt.
Während sich in Biblianders Schriften durchaus erste Bemühungen zu einem Dialog über die Religionsgrenzen hinweg finden, war der Islam aber vor allem in der Reformationszeit eines: die apokalyptische Vorhut, die «Zuchtrute Gottes» (Luther). Martin Luther, der übrigens das Vorwort von Biblianders Koran-Edition lieferte, vertrat folgende Merkregel: «Wie der Papst der Antichrist ist, so ist der Türke der leibhaftige Teufel.» Die Pointe ist, dass gerade der osmanische «Teufel» und dessen Expansionsdrang den katholischen Kaiser Karl V. hinderten, die Ausbreitung der Reformation militärisch niederzuschlagen. Er brauchte die Allianz mit den zum neuen Glauben übergetretenen deutschen Fürsten für die Türkenabwehr. Und deshalb gilt die Formel des Reformationshistorikers Thomas Kaufmann: «Ohne Islam keine Reformation».