Stellen Sie sich an einem Wochentag an den Paradeplatz. Fragen Sie einen der eiligen Anzugträger, ob er einen Zusammenhang zwischen dem eifrigen Treiben in seiner Bank und der Reformation sieht. Sparen Sie sich die Mühe, die Antwort lautet: Nein, ohne den Eilschritt zu unterbrechen, schliesslich ruft die Pflicht. Seine Arbeit, das System in dem er schafft, erlauben keine Pause, er ist ganz davon eingenommen. Für merkwürdige Fragen sicher keine Zeit.
Aber da liegt er falsch, der Banker, dass da keine Verbindung besteht. Denn die Reformation hat ganz entscheidend damit zu tun, dass der eilige Geschäftsmann heute so in seinem Wirtschaftshandeln aufgeht.
Schauen wir uns zunächst die Situation vor Luther, Zwingli und der Reformation an. Die Wirtschaft war vorwiegend vom Adel abhängig, denn ihm gehörte der Grund und Boden, auf dem die Leibeigenen arbeiteten. Jeder Mensch hatte aufgrund seiner Geburt eine feste Funktion in der Gesellschaft: Bauern, Adelige, Geistliche, Handwerker. Was wir heute als soziale Mobilität bezeichnen – vom Tellerwäscher zum Millionär –war nicht vorgesehen. Die katholische Kirche profitierte von diesem System, war grosse Landeignerin und erhob Steuern. Der ökonomische Status der Menschen hing von ihrem Landbesitz ab, und die Kirche hatte ein strenges Auge auf die Verteilung dieses Landes. Neben dem weltlichen Verdienst hatte die Kirche ein System etabliert, mit dem sich die Gläubigen von ihren Sünden freikaufen konnten: Den Ablasshandel. Wie Adam Smith in seinem Wohlstand der Nationen von 1776 erstaunt feststellt, war der katholische Klerus dabei äusserst einfallsreich, sein Einkommen zu maximieren: Aus den grossen und kleinen Sünden wurde ein Business Case, die Kirche als Unternehmerin in eigener Sache.
Im 14. Jahrhundert kam es zu Veränderungen. Es herrschte Aufbruchsstimmung, die Geldwirtschaft etablierte sich. Nicht mehr der Tausch von Ware gegen Ware, sondern Ware gegen Geld. Damit wurde der Handel stark vereinfacht, es bildete sich eine kleine aber einflussreiche Schicht von Händlern, die es zu einem gewissen Wohlstand brachte, sei es durch den Handel oder das Geschäft mit Zinsen. Das alte, katholische System passte nicht so recht zu dem neuen Leben, das diese Händler führten. Das Ideal bisher war eine vita contemplativa, ein Leben, das der mönchischen Reflexion gewidmet war, abseits weltlicher Anforderungen und Erfolgskategorien. Aus vorherrschender religiöser Sicht war ein zurückgezogenes Leben im Kloster wertvoller als eigener Erfolg – weltliche Arbeit eher Last und Ablenkung von der Aufgabe, gottgefällig zu leben. Nun arbeiteten diese Händler aber hart, für sich selbst und ihre Familien, und fanden für diesen neuen Lebenswandel keine rechten Antworten in ihrem Glauben. Die Reformation kam da gerade recht. Aus Blick der Wirtschaft kamen zwei zentrale Neuerungen in das neu verstandene Christentum:
- Die normale, weltliche Arbeit bekam religiöse Bedeutung. Vorher musste man in die Kirche gehen, dort Busse tun und beten, das religiöse Leben spielte sich in der Gemeinde ab. Die Reformatoren aber betrachteten auch weltliche Arbeit als Dienst am Nächsten, als Gottesdienst, mit dem Gottgefälligkeit unter Beweis gestellt werden konnte. Mit der Arbeit lässt sich der innere Mensche nach aussen kehren, wie Martin Luther es beschrieb. Man konnte also, was dem Bürgertum entgegenkam, gleichzeitig seinem Glauben nachkommen und Geschäfte machen. Diese religiöse Aufwertung der vita activa war einerseits Befreiung, weil sie die Distanz zwischen Geschäft und Glauben reduzierte. Andererseits war es aber Verpflichtung, denn die religiöse Wirksamkeit des Schaffens war nur dann gegeben, wenn die Tätigkeit strengen ethischen Ansprüchen gerecht wurde: Arbeit nach christlichen Regeln. Wie Max Weber eindrücklich in der Protestantischen Ethik festhält, war es nicht das Ziel der Reformatoren, ein Wirtschaftsprogramm zu schreiben – sondern den christlichen Glauben in die Tat umzusetzen. Dafür war die Arbeit nun ein Mittel.
- Die zweite ökonomisch relevante Innovation war, die Kirche als Mittler zwischen den Gläubigen und Gott zu streichen. Wirtschaftlich gesprochen wird die Kirche als Zwischenhändler zwischen Mensch und Gott gestrichen. Nicht mehr nötig. Denn um Gottes Gerechtigkeit zur erfahren – so die Reformatoren – braucht es nur die Gnade Gottes und den Glauben des Menschen (sola gratia et sola fide). Sich diese Gnade über den Ablasshandel erkaufen zu müssen, wurde gestrichen.
Die neuen Unternehmer fanden Gefallen an diesem Angebot und wechselten zur reformierten Seite. Es passte besser in das neue Leben, die Arbeit als Gottesdienst zu verstehen und seine Taten und Erfolge (auch das Scheitern) vor Gott zu zeigen, ohne den Umweg über die Kirche, die auch noch bei jeder Transaktion verdiente. Mitunter wurde bei dieser Interpretation über das Ziel hinausgeschossen, bekanntestes Beispiel wohl der Vulgärcalvinismus: Die Vorstellung, dass sich das Auserwähltsein eines Menschen vor Gott an wirtschaftlichem Erfolg zeigt. Auch wenn Calvins Prädestinationslehre diese Verbindung nicht herstellt, rettete sich dieser Strang protestantischer Wirtschaftsbejahung über die Zeit und hat heute im sogenannten Prosperity Gospel wieder Konjunktur. Aber auch in der gemässigten Auslegung zeigt sich: Die Reformation legte eine mentale Grundlage, um sich ganz der Arbeit zu widmen und den verbundenen wirtschaftlichen Erfolg mit dem Christ-sein in Einklang zu bringen.
Zurück zu unserem Banker am Paradeplatz. Wahrscheinlich versteht er seine eifrige Tätigkeit nicht als Gottesdienst und bringt seine Religion auch sonst nicht mit der Arbeit in Verbindung. Wo ist also der Link zwischen Reformation und Wirtschaft heute?
Die Marktwirtschaft hat sich die beiden erwähnten reformatorischen Änderungen zu Nutze gemacht, ohne dabei den ausdrücklichen Bezug zur Religion zu benötigen:
- Arbeit dient der Selbstverwirklichung und ist wichtiger Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen. Fast eine Selbstverständlichkeit: Wer arbeitet, hilft sich selbst und seinen Mitmenschen.
- Zur Vermittlung dieses Wohls braucht es keine Kirche und keine Institution – der Markt als Zentrum der Wirtschaft sorgt dafür, dass sich die gemeinsame Arbeitsanstrengung für alle optimal verteilt.
Bei alledem spielt die Gottesfurcht keine Rolle, unter deren Zeichen für die Reformatoren das Wirtschaften stand. Da liegt die These nahe, dass sich die Marktwirtschaft auf dem protestantischen Nährboden selbstständig gemacht und mittlerweile ihre religiösen Wurzeln zu einer eigenen Konfession ausgebaut hat: Kapitalismus als Religion? Dieses Bonmot zielt meist darauf, Missstände des Systems aufzudecken und den Stellenwert der eigentlichen Religion zu sichern. Der Erkenntnismehrwert ist dabei eher gering. Allerdings gibt es durchaus eine wichtige Einsicht, die sich aus den vielen Querverbindungen der Wirtschaft zur Religion ziehen lässt: Die Wirtschaft ist mehr als eine technische Struktur. Wie sie sich heute präsentiert, ist das Ergebnis jahrhundertelanger kultureller Auseinandersetzung, Aneignung und Abgrenzung. Das Verständnis der Arbeit als Akt der Nächstenliebe oder Selbstverwirklichung ist so eine Aufladung, und zwar eine mit protestantischen Wurzeln. Darüber hat der reformierte Glaube einen besonderen Bezug zur heute ganz und gar profan wirkenden Wirtschaft.
Erkundigen wir uns also nochmal bei dem Banker, etwas angepasst: Ist die Arbeit ein wichtiger Teil in Ihrem Leben und tragen Sie damit zum Wohlstand in der Schweiz bei? Dann gibt es wahrscheinlich ein klares ‚Ja!’. Und damit bewegt er sich auf den Spuren der Reformation – auch wenn ihm das vielleicht gar nicht bewusst ist.
Dr. Chr. Lucas Zapf (lucas.zapf@unibas.ch) beschäftigt sich an der Universität Basel mit Religionsökonomie, Wirtschaftsethik und ethischem Risikomanagement.
Mehr Hintergrund zum Thema ‚Arbeit und Protestantismus’: Zapf, Chr. Lucas (2014): Die religiöse Arbeit der Marktwirtschaft: Ein religionsökonomischer Vergleich. Baden-Baden: Nomos. Und zum Thema der Marktvergötterung: Zapf, Chr. Lucas; Seele, Peter (2017): 'Der Markt' existiert nicht. Aufklärung gegen die Marktvergötterung. Heidelberg: Springer-Verlag.