András Siebold: Wael, kannst du uns eine kleine Einführung in das Stück geben?
Wael Shawky: Das Stück ist eine neue Übersetzung eines historischen europäischen Textes aus dem 11. Jahrhundert, dem „Rolandslied“. Einerseits gibt es einen Bezug auf mein nächstes Projekt über die Geschichte des arabischen Golfs. Und gleichzeitig ist das Stück eine Fortführung meines Projekts „Cabaret Crusades“, einer Film Trilogie, in der es um die Geschichte der Kreuzzüge geht – aber aus arabischer Perspektive. In zweien dieser Filme habe ich ebenfalls Teile des Rolandsliedes verwendet, das während der Zeit der Kreuzzüge sehr verbreitet war – natürlich wegen seiner Glorifizierung der europäischen Helden Karl dem Grossen und seinem Neffen Roland.
Ein Versepos mit einer deutlich westlichen Perspektive.
Ja. Mir ist aufgefallen, dass es überhaupt keine arabischen Referenzen gibt. Wir fügen dieses Element hinzu, indem wir den Text in arabischer Sprache singen lassen, von Musikern aus Bahrain und Schardscha, die ein sehr altes kulturelles Erbe aus dieser Region repräsentieren.
Dein Bühnenbild basiert auf Miniaturkarten, die der bosnisch-stämmige osmanische Universalgelehrte Matrakçı Nasuh im 16. Jahrhundert gezeichnet hat. Du hast Karten von Aleppo, Bagdad und Istanbul ausgewählt – alles drei Städte, die eine Rolle in den Kreuzzügen spielten, aber auch heute noch politisch im Fokus stehen.
Ja, genau. Ich interessiere mich für die Beziehungen zwischen dem Westen und den arabischen Regionen, sowohl historisch als auch aktuell. Die Zeit der Kreuzzüge vor eintausend Jahren ist mit unserer zeitgenössischen Geschichte verbunden. Diese beginnt mit den Ölfunden in Saudi Arabien in den 1930ern und führten zu einer neuen Beziehung zwischen der Golfregion und dem Westen mit seinen amerikanischen und britischen Ölkonzernen. Die Musiker aus Bahrain und den Vereinigten Emiraten, mit denen ich nun arbeite, repräsentieren ebenfalls eine Verbindung zwischen diesen Zeitepochen.
Deren Musik heißt Fidjeri und reicht hunderte von Jahren zurück.
Ja, Fidjeri ist die Musik der Perlenfischer. Vor den riesigen Ölfunden war dieses ganze Gebiet im arabischen Golf von Perlenfischerei geprägt. Das Öl änderte alles. Die Perlenfischerei ist gänzlich verschwunden und auch die Tradition der Musik verschwindet mehr und mehr. Es ist fast, als gibt es sie überhaupt nicht mehr. Wir versuchen, diese Geschichte wieder aufleben zu lassen, indem wir die Geschehnisse der Kreuzzüge und das, was heute passiert, überlappen lassen.
In deiner Arbeit singen die Musiker nun Teile des Rolandslieds in einer Übersetzung in klassischem Arabisch – über die Fidjeri-Musik mit ihren ganz speziellen Rhythmen und Melodien. Wie viel von der Musik ist festgeschrieben, und wie viel ist improvisiert?
Ungefähr 95% sind schon fest. Improvisationen entwickeln sich nur, wenn einer der vier Solo-Sänger, die man Nahham nennt, singt. Oder sogar schreit – diese Art des Singens beinhaltet nämlich sehr viel Schreien. Aber die Melodien sind traditionelle Melodien, die alle auswendig kennen. Man nennt sie Haddani, Adsani oder Bahari. Ich habe dann den Rolandsliedtext zu diesen Melodien hinzugefügt. Wie du erwähnt hast, geht diese Musik sehr weit zurück in die Vergangenheit. Niemand weiss wirklich, woher sie ursprünglich kommt. Aber sie hat klare afrikanische Wurzeln, und ist so auch mit der arabischen Geschichte der Sklaverei verbunden.
Kurz vor der Premiere sitzen wir nun im Theatersaal vor 600 Einzelteilen, die später zu einer Art Mosaik werden, welches die drei Städte darstellt. Ist das auch deine Art, eine Bildende Kunstinstallation in den Bühnenraum zu übertragen?
Es ist ein Weg, meinen Hintergrund als Bildender Künstler und Filmemacher mit dem Theater zusammenzubringen – und das zum allerersten Mal. Ich sehe die Bühne, inklusive des Bühnenbodens, als ein einziges grosses Bild, bestehend aus Details, wie Farbpunkte in einem Bild. Und bezogen auf das Bühnengeschehen: damit gehe ich um wie mit einer Filmszene – eine einzige lange Szene, ausgedehnt auf fast eine Stunde. Es ist ausserdem der nächste Schritt nach den „Cabaret Crusades“ Filmen, in denen ich mit Marionette gearbeitet habe – die ihren Ausgangspunkt schon im Theater hatten! Und jetzt kommt der Übergang zu einem Theater mit echten Sängern.
WAEL SHAWKY (geboren 1971 in Alexandria) studierte Bildende Kunst an der Universtität in Alexandria und machte 2000 seinen M.F.A. an der University of Pennsylvania. Wael Shawky setzt eine Vielzahl an Medien wie Film, Zeichnung, Fotografie und Performance ein, um die realen und fiktionalen Geschichten und Erzählungen der arabischen Welt zu untersuchen und zu analysieren. Seine vielschichtigen Rekonstruktionen und Neuerzählungen zwingen das Publikum, sich mit Fragen über Wahrheit, Mythos und Stereotypen auseinanderzusetzen. Der Künstler versteht sich selbst als Übersetzer, der Fälle von zivilisatorischem Wandel in Form überträgt. Sein seit 2010 fortlaufendes Projekt Cabaret Crusades ist eine dreiteilige Serie von Zeichnungen, Objekten und Filmen mit animierten Marionetten und basiert auf dem Buch „The Crusades Through Arab Eyes“ von Amin Maalouf. Es analysiert die niedergeschriebene Geschichte und bezieht Inspiration aus einer Reihe von historischen Quellen, um die Geschichte des Kreuzzuges aus einer frischen Perspektive wiederzugeben und zu übersetzen. Die ersten zwei Teile der Trilogie wurden 2012 auf der dOCUMENTA (13) ausgestellt und der dritte Teil wurde im MoMA PS1 und auf der Art Basel 2015 gezeigt. Sein Werk war in wichtigen internationalen Ausstellungen wie Re:emerge, Sharjah Biennale (2013); Here, Elsewhere, Marseille-Provence (2013); 9. Gwangju Biennale, Südkorea (2012); 12. International Istanbul Biennale (2011); SITE Santa Fe Biennale (2008); Urban Realities: Focus Istanbul, Martin-Gropius-Bau, Berlin (2005); 50. Biennale in Venedig (2003) vertreten. Einzelausstellungen hatte er in den letzten Jahren im MoMA PS1, New York (2015), Mathaf, Doha (2015), K20, Düsseldorf (2014), in der Serpentine Gallery, London (2013), KW Berlin (2012) und beim Nottingham Contemporary (2011), in der Walker Art Gallery, Minneapolis (2011), bei der The Delfina Foundation (2011), in der Sfeir-Semler Gallery, Beirut (2010/11), bei der Cittadellarte-Fondazione Pistoletto, Biella, Italien (2010) sowie im Townhouse, Kairo (2005, 2003). Wael Shawky lebt und arbeitet in Alexandria, Ägypten und ist der Gründer von MASS Alexandria, einem Studioprogramm für junge Künstler.