«Meinen Willen hat Gott mir bedingungslos gegeben. Eine solche Freiheit hat mein Freund [Gott] mir in seiner Güte aus Liebe gewährt. Wenn ich aber sündigen wollte, warum sollte er es denn nicht zulassen? Würde er es nicht zulassen, nähme seine Macht mir die Freiheit. Seine Güte jedoch könnte es nicht zulassen, dass seine Macht mir in irgend etwas die Freiheit beschränkte.»
Marguerite Porète, «Spiegel der einfachen Seelen»
Diese Zeilen loderten im Jahr 1300 im Feuer der Inquisition. Und zehn Jahre später, am 1. Juni, folgten ihnen auch ihre Verfasserin Marguerite Porète, nachdem sie über ein Jahr lang die Mauern ihres Kerkers ebenso wie ihre Häscher angeschwiegen hatte. Sie fürchtete sich nicht vor dem Urteil der Kirche; sie hatte ihren Gott längst gefunden.
Das Heil der Kreatur lag für die Mystikerin in der Erkenntnis der Güte Gottes. Und diese sei so unermesslich, dass Gott dem Menschen die freie Wahl lässt. Als ketzerisch und im höchsten Masse gefährlich wurden ihre Gedanken damals empfunden und ebenso empört hätten die grossen Reformatoren Luther und Zwingli zweihundert Jahre später darauf reagiert. Für den Deutschen war der Wille nicht mehr als ein Pferd, ein Lasttier, auf dem entweder Satan oder Gott reite. Und auch der Schweizer war der Überzeugung, dass alles bereits durch die göttliche Vorsehung angeordnet sei, dass es keine menschlichen Verdienste gebe, weil sie allein durch Gottes Willen überhaupt erst geschähen. Die beiden Männer fürchteten, die göttliche Güte würde geschmälert werden dadurch, dass sich die Menschen freiwillig für das Gute entscheiden. In den Augen Porètes aber war selbst die Sünde ein freiwilliger Akt, denn niemand könne sündigen, ohne es zu wollen. Aber nichts, was der Mensch mit seinem Willen tue, könne die Güte Gottes in irgendeiner Form beeinträchtigen. Diese werde durch die Sünde nicht geschmälert und durch gute Werke nicht vergrössert. Denn Äusserlichkeiten würden Gott nicht interessieren. «Wer glaubt, Gott sei Sakramenten, Gebeten und Werken unterworfen, ist ein Esel», schrieb sie. Und dieser Gedanke beseelte auch die Reformatoren. Raus aus der klerikalen Leibeigenschaft, raus aus dem Schein und den Eitelkeiten! Nieder mit dem schmutzigen Geschäft des Ämterkaufs, dem Schacher der Päpste, die es wagten, den Herrn in irdische Geschäfte zu verstricken!
Vielleicht hatte aus diesem Geist heraus auch die letzte Äbtissin des Zürcher Fraumünsters gehandelt, als sie am 8. Dezember 1524 das Kloster und all die dazugehörigen Rechte, Ämter und Einkünfte dem reformatorisch gesinnten Stadtrat überliess. Selbst wenn ihr Amt seit der Brunschen Zunftverfassung 1336 nicht mehr mit der einst kaiserlich verbrieften Macht einherging, war sie nominell noch immer Stadtherrin. Als solche verfügte sie über das Begnadigungsrecht, mit dem sie die Urteile der Stadtgerichtsbarkeit aufheben konnte. Sie kaufte und verkaufte Höfe und ganze Dörfer in ihrem Namen und empfing als erste die wichtigen Besucher. Katharina war bloss 18 Jahre alt, als sie dieses Amt übernahm. Sie besass Reitpferde, liess die Klosterkirche inwendig bemalen und dekorierte ihre Zimmer mit eigenwillig frivolen Flachschnitzereien.
Diese Dame war es, die nach 28 Jahren als Äbtissin entschied, ihr Amt aufzugeben. Damit legte sie das über Jahrhunderte von fürstlichen Frauenhänden regierte Kloster in die Hände der Stadt. Und sie tat dies aus freiem Willen, wie sie selbst betonte. Ihr Gewissen gebe ihr diesen Entscheid ein, um Zürich und seinen Bürgern «grosse Unruhe und Ungemach» zu ersparen. Welch Weitsicht sich hier zeige, lobt Corine Mauch, Zürichs heutige Stadtpräsidentin, ihre Vorgängerin. Im Sinne des Ganzen zu politisieren – diesen Anspruch vertrete auch sie an sich selbst.
Die Verwaltung der Stadt solle vor Gott rechtens sein, vor niemandem sonst, schrieb Katharina. Und tatsächlich zeigt ihr Entscheid eine über die eigenen Eitelkeiten hinausgehenden Willen, das Richtige und Gute zu tun.
Mit 47 fing Katharina doch noch einmal ein ganz neues Leben an. Sie heiratete und brachte zwei Kinder zur Welt. Ihr Ehemann war ausgerechnet Eberhard von Reischach, ein in Zürich in Ungnade gefallener Ritter, der er als Söldnerführer junge Männer angeheuert und nach Württemberg in den Krieg geschickt hatte.
Dieser Krieg wurde geführt von aufständigen Bauern, die sich gegen ihr Elend erhoben. Sie forderten nichts weiter ein als ein menschenwürdiges Leben – und das Evangelium gab ihnen darin recht. In einem ihrer zwölf Artikel verlangten sie, ihren Gemeindepfarrer selbst zu wählen und ihn aus dem Zehnten – ihren Abgaben an die Kirche – zu bezahlen. Luther nannte die Forderung «eitel Raub und Strauchdieberei». Und weiter: «Hohe Zeit ist’s, dass sie [die Bauern] erwürgt werden wie tolle Hunde.» Der Reformator war in vielen Dingen dem Mittelalter verhaftet geblieben, nicht bereit für eine neue Zeit und schon gar nicht für ein neues Menschenbild, wie es dem Humanismus vorschwebte. Und während Zwingli in Zürich die Leibeigenschaft aufhob, war sie für Luther «eine gottgefällige Einrichtung» – schliesslich habe auch Abraham Sklaven besessen.
Von Weitsicht zeugt Luthers Urteil nicht. Denn die reformatorische Idee eines freien Christentums ohne römischen Oberhirten, ohne Bischöfe und ohne Priester barg bereits die Vorstellung von gleichberechtigten Menschen in sich. Wer die heilige Hierarchie tilgt, muss sich nicht wundern, wenn alle Profanen dieselben Rechte verlangen.
Die Mystikerin Marguerite Porète hatte zweihundert Jahre davor auf eigenen Wegen zu Gott gefunden und endete dafür auf dem Scheiterhaufen. Ihr sollten andere nachfolgen – auch im Namen der Reformation. Am 27. Oktober 1553 frisst sich das Feuer langsam durch's Holz zum spanischen Humanisten Michael Servetus. Seine Schreie hallen drei volle Stunden lang durch die Stadt Genf, doch dringen sie nicht zu dem Mann, der sie sich gewünscht hatte: Johannes Calvin. Denn Servetus hatte bestritten, dass die Dreifaltigkeit Gottes in der Bibel niedergeschrieben sei.
1591 erörtern die Lutheraner in Wittenberg die Frage, ob Frauen Menschen seien. Und 1672 kam eine ebenda erschienene Schrift zum Schluss: «Foemina non est homo».
Stets werden Menschen die Deutungshoheit über andere haben. Und stets wird einigen das Menschsein abgesprochen. Ihnen werden Rechte vorenthalten, die ihnen zustehen. Denn nach einer langen Geschichte von Kriegen, Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung haben wir in Europa die Gleichheit aller Menschen postuliert, sie festgeschrieben in unseren Verfassungen. Ein modernes Menschenbild, so rühmen wir uns, wo jeder gleich an Würde und Rechten geboren ist. Doch diesem Ideal auch nur ansatzweise gerecht zu werden, ist eine niemals endende Aufgabe. Die Aufgabe der Reformation, in ihrem eigentlichen Wortsinn. Und mögen wir auch an keinen Gott der Liebe mehr glauben, so haben wir doch wenigstens ein Gesetz der Liebe, zu dem wir uns immer wieder bekennen müssen, wenn uns die Freiheit etwas wert ist.