«Als würde bei uns jeder zweite Sonntag abgeschafft!»
Die Reformation ermöglichte Diskussionen mit dem Pfarrer – während der Messe. Szenen des gewaltigen Mitgestaltungsschubs im 16. Jahrhundert erzählen Brigitte und Niklaus Helbling im Gespräch über ihr Theaterstück «Zwingli Roadshow». Mit Brigitte Helbling und Niklaus Helbling sprach David Hunziker:
Brigitte Helbling, Niklaus Helbling, Ihr Theaterstück «Zwingli Roadshow» über die Reformation in der Zürcher Landschaft dreht sich, neben allem Humor, auch um ernsthafte theologische Fragen. Sind Sie gläubig?
Niklaus Helbling: Unserem Ensemble habe ich gleich zu Beginn gesagt: «Ich bin gläubig, und in dieser Arbeit will ich nicht hinter diesen Punkt zurückgehen.» Das interessiert mich daran: das Handeln von Leuten im Glauben – nicht die Reflexion darüber, ob man im Glauben ist oder nicht.
Übertragen Sie die Fragen der Reformationszeit, die Kritik am Katholizismus oder das Nachdenken über die Organisation der Kirche, in einen aktuellen Kontext?
NH: Unsere Strategie ist genau umgekehrt: Wir stellen Figuren auf die Bühne, die keinen Zweifel haben, dass diese Fragen wichtig sind. Und wir behaupten einfach mal, dass die «Zwingli Roadshow» im Jahr 1532 spielt. Das ist eigentlich eine haarsträubende Konstruktion, aber wir wollen die Leute damit in die Zeit zurückversetzen. Ich finde, Aktualisierung wird überschätzt. Die Leute kommen ja ins Theater, um sich in eine andere Welt entführen zu lassen.
Trotzdem: Interessieren diese Fragen noch?
Brigitte Helbling: Ich bin überzeugt, dass sie viele Gläubige weiterhin beschäftigen. Auch Musliminnen und Muslime könnten sich für das Stück interessieren – die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Ausrichtungen ist im Islam ja hochaktuell. Der religiöse Furor lodert noch.
NH: Ich vertraue darauf, dass die Leute immer noch genau wissen, wovon wir sprechen. Blickt man zwei Generationen zurück, war die Spaltung in der Kirche noch hochbrisant. Meine Grossmutter ging nicht bei der Bäckerei «Hürlimann» in Zürich Hottingen einkaufen, weil das Katholiken waren.
Und die Reformation und die Predigten von Zwingli, was bedeuten die Ihnen persönlich?
BH: Wir sind beide mit der reformierten Kirche aufgewachsen. Niklaus, du ja wurdest sogar im Grossmünster getauft und konfirmiert.
Im Zentrum der Zürcher Reformation!
BH: Niklaus hat dort nach der Konfirmation mit Werner Gysel zusammen, der 1977 als Pfarrer ans Grossmünster kam, einen Jugendklub aufgezogen – da war ich ebenfalls dabei. Wir waren etwa 16 Jahre alt und haben uns jeden Freitag getroffen, um Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Cat Stevens zu hören und zu diskutieren. Manchmal hat Gysel uns auch nach unserer Meinung zu einem Spruch gefragt, über den er am nächsten Sonntag predigen wollte. Wenn ich an Zwingli und seine Bibel-Lesekreise denke, dann stelle ich mir das etwa so vor wie unseren Jugendklub.
NH: Mit Gysel sind wir immer noch befreundet und haben mit ihm auch viel über Zwingli diskutiert.
Haben Sie sich also mit Expertinnen und Experten ausgetauscht, um sich die Reformation historisch zu erschliessen?
BH: Wir haben uns vor allem auf Quellen gestützt. Gysel und seine Frau Irene, die lange bei der Sendung «Sternstunde Religion» war, haben uns das 2010 erschienene Buch «Reformation als bäuerliche Revolution» des Historikers Peter Kamber ans Herz gelegt. Darin erzählt Kamber unzählige Geschichten aus der ländlichen Bevölkerung zur Zeit der Reformation.
Wie sind diese Geschichten überliefert?
BH: Während der Reformation hat der Zürcher Rat unzählige Ereignisse minutiös protokolliert – diese Akten sind wahre Goldgruben. Für eine Notiz reichte bereits die Bemerkung, der Nachbar habe geflucht oder jemandes Frau sei ständig wütend. Und natürlich haben wir auch die Predigten von Zwingli studiert – deren Sprache ist schon beeindruckend. Und sie sind unglaublich witzig.
Witzig?
BH: Es gibt eine Predigt, in der Zwingli plötzlich von den Affen in Afrika zu sprechen beginnt, und man fragt sich, was das jetzt soll. Oder einmal bezeichnet er die Menschen wegen ihrer Erbsünde als Mutterschlächter und hängt ihnen eine ganze Liste von schlimmen Dingen an. Ich glaube, er war sich der Wirkung solcher Bilder sehr bewusst und hat sie bewusst eingesetzt.
Ist der Humor der Reformation unterschätzt?
NH: Es ist natürlich schwer zu sagen, wie lustig diese Leute damals wirklich waren. Aber auch die Themen und Motive, die in der Reformation eine Rolle gespielt haben, das Wurstessen oder jemandem zur Strafe durchs Haus zu laufen, haben eine bizarre Qualität.
Abgesehen davon, wie stellen Sie sich die Reformationszeit vor?
NH: Offiziell waren noch alle Leute gläubig – sie fühlten sich mit Religion sogar unterversorgt, weil es zu wenige Prediger gab. Es herrschte die latente Überzeugung, dass die Kirche verlottert war und endlich etwas geschehen musste. Als man die Bibel plötzlich auf Deutsch lesen konnte, haben die Leute die Einladung angenommen, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich an Diskussionen zu beteiligen. Dass Dinge so radikal infrage gestellt werden und plötzlich so viel mehr Leute einbezogen werden, ist einzigartig. Das war vermutlich die aufregendste Zeit, die Zürich je erlebt hat.
BH: Dazu fällt mir gleich ein Beispiel aus den erwähnten Akten ein. Als ein Pfarrer in Küsnacht einmal predigte, Tanzen sei nicht gottgefällig, erhob eine Frau in der Kirche Einspruch: Obwohl sie tanze, sei sie sehr wohl gottesfürchtig. Die Kirchgemeinden mischten sich tatsächlich ein.
Was abgesehen vom Zugang zur Bibel verleitete die Leute dazu?
BH: Eine vorreformatorische katholische Messe muss man sich wie ein gigantisches Spektakel vorstellen, dem man passiv zuschaut. Durch den Weihrauch, der verbrannt wurde, waren die Leute ganz wörtlich benebelt – eine riesige Kifferoper! Diese Betäubung fiel plötzlich weg.
Es gibt ja einen Punkt, an dem es Zwingli und dem Zürcher Rat doch zu viel wurde mit der Einmischung der Leute. Vor allem die Täufer, die radikalste Bewegung innerhalb der Reformation, stellten auch soziale und politische Forderungen. In Zürich wurden einige von ihnen hingerichtet...
NH: Ich glaube, Zwingli hat kalkuliert, dass die Reformation wie eine Lawine ins Rollen kommt. Sonst hätte sie gar nicht so gut funktioniert. Doch irgendwann kam der Punkt, an dem es auch um den weltlichen Machterhalt ging – da schritt der Rat gegen die Täufer ein. Zwingli ging es nie um einen Staatsstreich.
BH: Ich finde es aber auch immer wieder erstaunlich, wie schnell sich die Reformation durchgesetzt hat. Die Eingriffe waren ja teilweise heftig: Innerhalb von fünf Jahren wurden zum Beispiel 45 Feiertage auf 15 reduziert. Das ist, als würde bei uns jeder zweite Sonntag abgeschafft. Damit wurde der ganze Lebenszyklus der Leute über den Haufen geworfen.
Hatte das eigentlich auch ökonomische Gründe?
BH: Unbedingt! Die Wurst ist auch ein Mittel zur Reproduktion der Arbeitskraft. Der Drucker Christoph Froschauer, in dessen Haus der berühmte Fastenbruch in Form des Wurstessens stattgefunden hatte, sagte ganz klar: Meine Leute müssen arbeiten, die können nicht ständig fasten.
Wieso haben die Leute trotzdem so gerne mitgemacht?
BH: Ich glaube, am wichtigsten war, dass Zwingli den Leuten viele Ängste nahm. Etwa vor dem Fegefeuer oder davor, dass ihr ungetauftes Kind nicht in den Himmel kommt, wenn es stirbt. Und er hat die Freude in die Religion zurückgebracht: die Freude am Mitdenken, die Erotik der Diskussion.
Zwingli Roadshow