Was bisher geschah…
Ein Semester Theologie hat Zwingli studiert, dann ist er nach einem Schnellkurs Pfarrer geworden, erst in Glarus, später in Einsiedeln und seit bald fünf Jahren in Zürich. Trotz unabgeschlossenem Studium hatte er sich weitergebildet, war dem Bibeltext ganz nahe gekommen und zur Einsicht gelangt, dass darin alles enthalten ist, was man als guter Christ wissen und befolgen soll. Was die Kirchenväter, Päpste und Konzile der vergangenen Jahrhunderte an Wahrheiten haben verlauten lassen, ist ihm egal. Er will back to the roots. Seine Predigten hatten in Zürich für Furore gesorgt. Keine kirchlichen Gebote mehr, keine Heiligen, keine Sonderposition für die Jungfrau Maria und obendrauf auch noch die Gleichberechtigung aller Gläubigen – seine Ideen kommen bei vielen Bürgern gut an. Wohl nicht zuletzt, weil er seiner Meinung nach fehlbare Personen in seinen Predigten beim Namen nennt. Als Parteigänger Zwinglis tritt eine stadtbekannte Rowdytruppe um den Buchdrucker Christoph Froschauer auf die Bildfläche, die mit öffentlichkeitswirksamen Events wie Wurstessen in der Fastenzeit und Predigtstörungen die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es mehren sich auf den Tischen der Ratsherren die Beschwerden gegen diesen Ketzer und seine Anhänger. Da es sich um geistliche Konflikte handelt, wäre es die Aufgabe des Konstanzer Bischofs, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Der hat aber gerade keine Zeit, sondern alle Hände voll mit einem anderen aufsässigen Priester zu tun – mit Martin Luther. Die Zürcher Regierung beschliesst in einem Akt der Kompetenzüberschreitung die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Und los geht’s.
29. Januar 1523, 6 Uhr früh: Im Ratssaal der Stadt Zürich drängen sich 600 Menschen. Neben der zweihundertköpfigen Regierung sind Pfarrer aus dem gesamten Herrschaftsbereich zusammengekommen. Sie sollen, so stand es bereits in der Einladung, ihre Einwände gegen die neue Predigtlehre vorbringen, frei, ohne Furcht vor Konsequenzen. Einzige Bedingung: Die Kritik muss mit der Bibel belegt werden. Jeder darf, aber niemand will. Denn mit Zwingli mag sich keiner der Anwesenden so richtig anlegen. Dieser hatte sich im Vorfeld bereits mehrmals dazu bereit erklärt, seine Lehre öffentlich zu verteidigen und ist dementsprechend gut vorbereitet. In 67 Artikeln hat er nun seine Predigten der letzten Jahre zusammengefasst und am Vorabend der Disputation veröffentlicht. Obwohl die Artikel keine ausgearbeiteten Disputationsthesen im engeren Sinn und erst recht kein «Programm der Reformation» darstellen, sind sie doch in ihrer konsequenten Argumentation aus der Bibel hieb- und stichfest.
Eine Delegation aus Konstanz unter der Leitung des bischöflichen Vikars Johannes Fabri war angereist, um die Disputation im Auge zu behalten. Ihr ausdrücklicher Auftrag war es, gegen die Versammlung zu protestieren und sich keinesfalls an der Diskussion zu beteiligen. Da nun aber niemand gegen Zwingli sprechen will, nimmt dieser den Vikar ins Visier und provoziert ihn so lange, bis Fabri sich auf das Gespräch einlässt. Der Schlagabtausch endet in einer Katastrophe: Der Vikar, ein durchaus fähiger Theologe, kommt mit dem Schriftprinzip (der Setzung der Heiligen Schrift als Massstab aller Dinge) nicht klar und verheddert sich immer mehr. Er kann zwar aus den Schriften der Kirchenväter heraus argumentieren und kennt sich bestens mit Konzilsbeschlüssen aus, aber Zwingli lässt das nicht gelten. Mit der Forderung, sämtliche Ansichten einzig und allein aus der Bibel zu begründen, entzieht er Fabri dessen gesamte theologische Basis. Nach ein paar Stunden demütigenden Wortwechsels zwischen Zwingli und Fabri und einigen schwachen Einwänden aus der versammelten Priesterschaft unterbricht der Bürgermeister die Disputation. Der Rat ist müde und hungrig. Nach dem Mittagessen wird bereits das Urteil verkündet: Zwingli darf weiterpredigen wie bisher. Darüber hinaus muss die gesamte Zürcher Geistlichkeit seiner Lehre folgen. Und wer ihn noch einmal Ketzer nennt, wird bestraft. Eigentlicher Sieger aber ist der Rat selbst. Denn er hat bewiesen, dass sich auch theologische Probleme ohne Bischof lösen lassen.
Zum Zweiten.
26. – 28. Oktober 1523, same place, same time, same issue. Abermals haben Zwingli und Konsorten für Unruhe gesorgt. Im Sommer war eine neue Messordnung eingeführt und damit begonnen worden, die Heiligenbilder aus den Zürcher Kirchen zu entfernen. Tumultartige Szenen bewegen den Rat erneut dazu, eine Disputation einzuberufen. Diesmal soll die Sache auf eidgenössisches Niveau gebracht und auf die Bischöfe von Chur und Basel ausgeweitet werden, doch es hagelt harsche Absagen: Weder Eidgenossen noch Vertreter der Kirchenobrigkeit wollen sich auf ein Gespräch einlassen. Selbst der Bischof von Konstanz verzichtet darauf, erneut eine Delegation nach Zürich zu entsenden.
Diesmal ist der Saal noch voller, an die 900 Teilnehmer, erstmals auch Laien, drängen sich wie die Ölsardinen. Wieder geht es weniger um die Lösung theologischer Probleme als um ganz realpolitische Angelegenheiten. Die anwesenden Geistlichen werden reihum einzeln zu den Streitpunkten befragt. Der Ausgang dieser Vernehmung ist ernüchternd, denn er offenbart die miserablen Bibelkenntnisse der Pfarrer. Neuen Gegenwind erhält Zwingli aber plötzlich aus den eigenen Reihen: Radikale Anhänger lehnen jede weltliche Autorität ab, was sein Ansehen beim Rat in Gefahr bringt. Zwingli nimmt eine Spaltung in Kauf, beharrt auf der Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Obrigkeit und sichert damit seine Position im Machtgefüge. Diesmal hält sich der Rat mit einem schnellen Urteil zurück. Einige Tage nach dem Ende der dreitägigen Disputation ergeht der Beschluss, fürs Erste einmal alles beim Alten zu lassen und Änderungen langsam durchzuführen. Dazu bekommen die Geistlichen eine Kurzfassung von Zwinglis Lehren, um wenigstens in evangelischen Grundansichten gebrieft zu sein.
Das Ende vom Lied.
Liest man heute die mehreren hundert Seiten Sitzungsprotokoll, fragt man sich unwillkürlich: Was machte denn diese Disputationen zum grossen Aufreger? Denn was im ersten Moment nach Revolution, Aufbruch und politischem Schlagabtausch klingt, ist in Wahrheit eine ziemlich gesittete, ziemlich einseitige Diskussion, eine über weite Strecken wenig prickelnde Aneinanderreihung von Schriftzitaten – ein «Bible Battle» quasi – Auseinandersetzungen zwischen (mehr oder weniger fähigen) Theologen über sehr spezifische Fragestellungen. Trotzdem spielen die Disputationen als Kristallisationspunkte eines Machtkampfes über die Hoheit im Stadtstaat Zürich eine entscheidende Rolle: Der grosse Rat macht keinen Hehl mehr daraus, auf die bischöfliche Autorität zu pfeifen und seinen Einflussbereich kontinuierlich zu erweitern. Zwingli, der sich immer noch bescheiden gibt, zementiert seine Position, sichert sich den Rückhalt der wichtigen Entscheidungsträger und gibt die Spielregeln für weitere Auseinandersetzungen vor: Durch die Setzung des Schriftprinzips wird hier ein einziger Text zum unanfechtbaren Massstab gemacht. Der Reiz der Disputation beruht ja gerade darauf, dass es nicht mehr um potentiell diskutable Expertenmeinungen geht: Zwingli kennt die Bibel wie kein anderer. Zwingli weiss, worüber er spricht - und worüber nicht. Zwingli hat immer recht.